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Frauen an der Macht? Nicht in Chile!

Chile gilt nicht erst seit seinem OECD-Beitritt im Jahr 2010 als eines der fortschrittlichsten und höchstentwickelten Länder Lateinamerikas. Doch die patriarchalischen Strukturen der chilenischen Gesellschaft bestehen fort: In den wichtigsten Sektoren der chilenischen Wirtschaft gibt es praktisch keine Frauen in Führungspositionen, so das Ergebnis einer Studie, die im Rahmen des Internationalen Frauentages am 8. März vorgestellt wurde.

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Die Studie des Forschungsinstituts ICSO (Instituto de Investigacion en ciencias sociales) der Universität Diego Portales und des Regionalbüros Cono Sur der Heinrich-Böll-Stiftung untersucht am Beispiel von über 5.000 öffentlichen und privaten Unternehmen und Institutionen in Chile den Anteil von Frauen in Führungspositionen. Das Ergebnis ist frappierend: In den umsatzkräftigsten und damit relevantesten Sektoren der chilenischen Wirtschaft – vor allem im Rohstoffbereich –  findet sich keine einzige Frau auf herausragenden Führungspositionen wie Vorstandvorsitz oder Geschäftsführung. Insgesamt ist im privaten und öffentlichen Sektor nur etwa jede fünfte Schlüsselposition mit einer Frau besetzt.

Am gravierendsten ist das Ungleichgewicht in der Privatwirtschaft und im Finanzsektor. Das belegen die Zahlen eindrucksvoll: Nur 1,7 Prozent  der Führungskräfte in Unternehmen und nur 3,7 Prozent der Entscheidungsträger im Bereich Finanzdienstleistungen sind weiblich. Insbesondere im Finanzbereich ist die Pyramide besonders spitz, denn vor allem in den schlechtbezahltesten und einfachsten Tätigkeiten (Bankschalter etc.) finden sich fast zur Hälfte Frauen. Dabei sind die formellen Anforderungen auch für die einfacheren Tätigkeiten hoch: Einen BA oder ein Diplom ist in der Regel Einstellungsvoraussetzung.

Besonders auffällig ist der Ausschluss von Frauen in den wirtschaftlich bedeutendsten produktiven Sektoren des Landes: In den Bereichen Bergbau, Lachszucht und in der verarbeitenden Industrie (vor allem Papierfabriken) werden die wichtigen Entscheidungen ausschließlich, also zu 100 Prozent von Männern getroffen – hier sind selbst im Vorstand, also unter den Eigentümern, KEINE Frauen vertreten. Offenkundig hat also selbst in den Eigentümerfamilien der weibliche Nachwuchs einen deutlich schlechteren oder gar keinen Zugang zu den Entscheidungsebenen.

Hier findet man Frauen erst im mittleren Management, mit geringen Anteilen von 3-7 Prozent. Im Einzelhandel gibt es etwas mehr Frauen auf verantwortungsvollen Posten, ihr Anteil ist mit 5,5 Prozent jedoch immer noch sehr niedrig. Vergleichsweise am höchsten ist der Frauenanteil in Führungspositionen in der öffentlichen Verwaltung (34,1 Prozent).

Je größer die Verantwortung, desto kleiner der Anteil der Frauen

Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass es in allen untersuchten Branchen eine Machtpyramide gibt: Je wichtiger der Bereich, und je höher die Position, desto geringer die Präsenz von Frauen. Dies gilt sowohl für den öffentlichen und den privaten Sektor, als auch für die Gebiete Bildung und Gesundheit, die oft mehr mit Frauen assoziiert werden. In den Universitäten gibt es beispielsweise nur 5,1 Prozent Rektorinnen, aber 22,6 Prozent Dekaninnen oder Fachbereichsleitererinnen. In Bildungsinstitutionen mit niedrigerem Niveau steigt der Anteil der Rektorinnen, und je weiter man sich von der Hauptstadt Santiago entfernt, desto seltener trifft man auf Frauen in den obersten Positionen.

Ähnlich sieht es im Gesundheitswesen aus: Die Leiter von Kliniken und Krankenhäusern sind zu 100 Pozent männlich, während mehr Frauen im Bereich mittleres und medizinisches Management anzutreffen sind. 

Demselben Trend folgen auch Gewerkschaften und Berufsverbände: je höher die Position, desto kleiner der Anteil der Frauen. Ein etwas ausgeglicheneres Bild zeigt sich im Bereich der Politik. Die Anteile der Bürgermeisterinnen, Senatorinnen und weiblichen Abgeordneten liegen mit 12,5 Prozent, 13,2 Prozent und 13,3 Prozent nahe beieinander. Von außen betrachtet könnte man zu dem Schluss kommen, dass Frauen in der chilenischen Politik etwas Alltägliches sind – schließlich wählten die Chilen/innen im Jahr 2005 Michelle Bachelet zu ihrer Präsidentin. Bachelet blieb jedoch vorerst eine Ausnahmeerscheinung: Grundsätzlich ist der Anteil von Frauen niedriger, wenn der Posten durch Wahlen besetzt wurde.

Exklusion in allen Bereichen

Auch wenn häufig als erstes der geringe Anteil von Frauen in der Politik kritisiert wird, zieht sich die massive Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen im Fall Chiles durch alle Bereiche, von der Privatwirtschaft, dem Bildungs- und Gesundheitssektor bis hin zu Gewerkschaften und öffentlichem Dienst. Es handelt sich daher keineswegs nur um ein Problem des politischen Systems, sondern um ein strukturelles Problem der gesamten chilenischen Gesellschaft.

Tatsächlich ist es der Staatsapparat, der die meisten Frauen auf Führungspositionen zu verzeichnen hat, auch wenn ihr Anteil immer noch niedrig ist. In der Privatwirtschaft sind Frauen am stärksten unterrepräsentiert und in den Hauptwirtschaftszweigen Chiles haben ausschließlich Männer das Sagen.

Die Ergebnisse der Studie zeigen, wie weit das Land von gerechten Geschlechterverhältnissen entfernt ist. Geschlechtergerechtigkeit herzustellen, ist - nicht nur im katholisch-konservativen Chile - eine Mammutaufgabe, die jedoch unverzichtbar ist, denn, um es mit den Worten der 1985 verstorbenen chilenischen Theoretikerin Julieta Kirkwood zu sagen: „No hay democracia sin feminismo“.


Anna Kruip, Politikwissenschaftlerin, absolviert zurzeit ein Praktikum im Büro Cono Sur der Heinrich-Böll-Stiftung in Santiago de Chile.

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